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Wie das Kinderbuch laufen lernte

Das Kinder- und Jugendliteraturgenre ist eine Erfindung der Neuzeit. Wie Kindheit überhaupt eine Erfindung der Neuzeit ist. Kindheit, wie wir sie heute verstehen, gab es vor dem 18. Jahrhundert nicht. Bis dahin galt der kleine Mensch eher als Vorstufe zur Menschwerdung. Kinder wurden behandelt wie unfertige Erwachsene. Sie wurden gekleidet wie Erwachsene. Es gab keine eigene Kinderkultur und selbstverständlich auch keine Kinderliteratur. Erst mit der Aufklärung wandelt sich das Bild: Kindheit wird als besondere, schutzbedürftige Lebensphase entdeckt. In „Emile oder Über die Erziehung“ (1762) entwirft Rousseau eine „Pädagogik vom Kinde aus“. In diesem Zeitraum – zwischen 1770 und 1790 – entsteht die erste Kinderliteratur. Sie beginnt nicht mit belletristischen Werken, sondern mit Zeitschriften. Im Jahr 1772 bringt Johann Christoph Adelung das „Leipziger Wochenblatt für Kinder“ heraus. 3 Jahre später folgt der „Kinderfreund“ von Christian Felix Weiße.

Zur Geschichte der Kinderliteratur lesen Sie folgende Kapitel:

1. Zwischen Pädagogik und Poesie

Die Kinderbücher im 18. Jahrhundert haben stark moralisierende Tendenzen. Sie dienen der Belehrung und Unterweisung des Kindes, nicht seiner Unterhaltung. Mit Romantik und Biedermeier kommt eine poetische Gegenbewegung auf. Märchen und fantastische Geschichten werden für Kinder niedlich illustriert. Feen, Elfen, Wichtel – die gesamten Miniaturgesellschaften von Wald und Wiese – bevölkern die Kinderbücher und spiegeln die Vorstellung vom Kind in seinem reinen Naturzustand – unschuldig und vollkommen.

Den radikalsten Bruch mit dieser Verwichtelung der Kindheit vollzieht der deutsche Kinderarzt Heinrich Hoffmann. „Gegen Weihnachten des Jahres 1844, als mein ältester Sohn drei Jahre alt war, ging ich in die Stadt, um demselben zum Festgeschenke ein Bilderbuch zu kaufen, wie es der Fassungskraft des kleinen menschlichen Wesens in solchem Alter entsprechend schien. Aber was fand ich? Lange Erzählungen oder alberne Bildersammlungen, moralische Geschichten, die mit ermahnenden Vorschriften begannen und schlossen, wie: 'Das brave Kind muss wahrhaft sein‘; oder: 'Brave Kinder müssen sich reinlich halten‘ usw.“ (1)

Aus dieser Not heraus, machte sich Dr. Heinrich Hoffmann selbst ans Werk. Er schuf mit seinem Struwwelpeter das bekannteste, berühmteste aller deutschen Kinderbücher. Seine drastischen Geschichten vom Suppenkaspar und Zappelphillip, von Konrad, dem Daumenlutscher, und Paulinchen-allein-zu-Haus werden 1845 zunächst unter dem Titel „Drollige Geschichten und lustige Bilder für Kinder von 3–6 Jahren“ veröffentlicht und erscheinen seit 1847 unter dem Titel Struwwelpeter. Kein deutsches Kinderbuch hat je so viele Freunde und Feinde gehabt. Der Struwwelpeter wurde unzählige Male übersetzt, adaptiert, umgedichtet, parodiert und vertont. Noch in den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts nahm F.K.Waechter mit seinem Anti-Struwwelpeter darauf Bezug. Der Struwwelpeter wurde als Singspiel umgearbeitet und schließlich sogar als schrille Junkopera „Shockheaded Peter“ mit der Musik der Londoner Kultband „The Tiger Lillies“ (1998) vertont.

(1) zitiert nach: http://de.wikipedia.org/wiki/Struwwelpeter

2. Von bösen Buben und wilden Mädchen

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entsteht Wilhelm Buschs mit satirisch spitzer Feder gezeichnete Kindergeschichte „Max und Moritz“ (1865). Mark Twain schafft mit seinem wundervollen Abenteuerbuch „Tom Sawyer“ (1876) einen Klassiker der realistischen Kinder-, Jugend- und Erwachsenenliteratur. Hier wird weder moralisiert, noch satirisch überspitzt. Speziell für Mädchen entsteht ein ganz eigenes Subgenre: Die so genannten Backfischromane feiern mit Emmy von Rhodens „Trotzkopf“ (1885) und Else Urys Nesthäkchen (1913) große Erfolge. Über viele Fortsetzungsbände hinweg werden wilde, lebhafte Mädchen zu sanften erwachsenen Frauen domestiziert. Später wird Enid Blyton das Genre aufnehmen und mit „Hanni und Nanni“ und den Dolly-Bänden modernisieren und höchst erfolgreich fortsetzen.

3. Die verlorene Einheit von Mensch und Natur

Mit dem ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert wird Zivilisationskritik ein Thema im Kinder- und Jugendbuch. Johanna Spyris Heldin „Heidi“ (1880) kann in der Großstadt Frankfurt nicht Fuß fassen und kehrt in die Almidylle zu Großvater und Geißenpeter zurück. Auch Rudyard Kiplings „Dschungelbuch“ (1894) und „Wind in den Weiden“ von Kenneth Graham (1908) gehören zu den zivilisationskritischen Kinderbuchklassikern aus dieser Zeit.

4. Die neue Sachlichkeit

Die neue Sachlichkeit in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts brachte für Kinder und Jugendliche wenig Neues. Noch immer überwog Seichtes, Triviales und Mittelmäßiges in der Kinder- und Jugendliteratur. Bis Erich Kästner 1928 mit „Emil und die Detektive“ den ersten realistischen Großstadtroman für Kinder schrieb. Es folgten „Pünktchen und Anton“, „Das doppelte Lottchen“ und das „Fliegende Klassenzimmer“. Erich Kästner sparte die realen Sorgen wie Geldnot und Trennungsangst in seinen Kinderromanen nicht aus und brachte damit eine neue Qualität in die Kinder- und Jugendliteratur. 1933 wurde Kästner von den Nationalsozialisten mit Publikationsverbot belegt. In seinen Büchern sah man Dekadenz und moralischen Verfall am Werk. Sie wurden am 10. Mai 1933 verbrannt (alle – bis auf „Emil und die Detektive“). Die Herrschaft der Nationalsozialisten und der zweite Weltkrieg hinterließen ein literarisches Vakuum, das noch bis weit in die 5oer Jahre hinein mit moralisierender und trivialer Kinderliteratur gefüllt wurde.

5. Fantasie an die Macht!

Als die Erwachsenenliteratur nach 1945 mit der Aufarbeitung des zweiten Weltkrieges begann und sich neu orientierte (Gruppe 47), gab es für die Kinderliteratur keinen vergleichbaren Neuanfang. Und doch begann mit einem einzigen Kinderbuch eine neue Kinderbuch-Ära: 1949 reiste der Verleger Friedrich Oetinger nach Stockholm. Er besuchte Astrid Lindgren, um zu fragen, ob er eine Option für Pippi Langstrumpf für den deutschen Markt haben könne. Er konnte – und so brachte er das Buch im Herbst 1949 in Deutschland heraus.

Pippi, das stärkste Mädchen der Welt, wächst ohne Eltern auf. Sie lebt autark und unkonventionell, geht nicht in die Schule und doch hat sie mit Thomas und Annika zwei ganz normale, liebe und angepasste Freunde. Pippi passte so gar nicht in die vermufften 50er Jahre. Es war eine mutige Entscheidung des Verlegers Friedrich Oetinger – und eine richtige. Pippi Langstrumpf wurde zum größten Kinderbuch-Erfolg aller Zeiten. Kaum ein lesender Mensch wandelt heute auf dieser Erde, der sie nicht kennt. Im Jahr 2009 ist Pippi 60 Jahre alt geworden – und ist bis heute kein bisschen leise.

Mit Pippi Langstrumpf und Michael Endes „Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer“ (1956) kam die Autonomie des Kindes zu ihrem Recht und die Fantasie im Kinderbuch an die Macht. Astrid Lindgren, Michael Ende, Otfried Preußler – sie alle schufen mit ihren Büchern Schonräume, in denen das Kind unversehrt und selbstbestimmt sein konnte. Diese heile Welt im Kinderbuch stieß in den studentenbewegten 70er Jahren auf Kritik und Ablehnung. Gute Kinderliteratur sollte problemorientiert sein. Sie sollte antiautoritär und aufklärerisch wirken. Standardwerke in Kinderläden und Kitas der 70er Jahre waren Friedrich Karl Waechters „Anti-Struwwelpeter“ und Susanne Kilians „Nein-Buch für Kinder“ (1973).

6. Und heute?

Das junge Genre der Kinder- und Jugendliteratur ist erwachsen geworden. Es kennt keine Dogmen und keine Tabuthemen. Fantasie und Realität, Poesie und Prosa, ernste und humorvolle Themen, Sach- und Lachgeschichten – alles findet Platz in der heutigen Kinder- und Jugendliteratur und hat seine Berechtigung. Gut Gemachtes ersetzt gut Gemeintes. Anstelle von Belehrung finden wir Spannung und Unterhaltung. Und für den pädagogischen Zeigefinger heißt es: „Ich muss draußen bleiben!“ Gut so.

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